Ganz in der Nähe der St. Michaeliskirche fast gegenüber an der Echternstraße 17, auf dem Hinterhof, befindet sich am Stadtgraben dieser heute fast vergessene Wehrturm mit dem Gang zum Graben!
Wer Burgruinen und Schlösser besichtigt, wer ehrwürdige Klöster, uralte Stadthäuser oder Mauern sich ansieht, hat gleichsam ein moralisches Recht darauf, dass man ihm unterirdische Gänge irgendwelcher Art zeigt. So etwas ist beinahe unlöslich mit dem Begriff der Romantik verknüpft. Geheimnisvolle Schauer erfassen uns, wenn wir an solch einen Ort stehen. Modergeruch und Halbdunkel lassen unsere Gefühlsnerven auf besondere Art erzittern. Auch die Stadt Braunschweig kann mit einem unterirdischen Gange dienen, der allerdings lange nicht genug vom Standpunkt der Romantik oder vielleicht auch eines rührigen Fremdenverkehrsvereins aus erkannt ist. Wir denken nicht daran, das Geheimnis zu lüften. Wir wollen nur Andeutungen machen, um niemanden die Arbeit des Suchens und die Freude des finden abnehmen. Wir sprechen daher nur das Wort „Echternstraße“ aus. Wir treten in ein verhältnismäßig nüchtern aussehendes Haus ein. Daneben ist ein kleines Häuschen aus dem 18. Jahrhundert erhalten. Treten wir dorthin, so werden wir nicht viel sehen außer Häusergewirr am alten Stadtgraben.

Das Geheimnis im Winkel.
Wer zu dem unterirdischen Gang gelangen will, darf sich den genannten Treppenaufstieg nicht irre machen lassen. Er muß vielmehr kurz vorher rechter Hand in einen zweiten kleinen Hof treten, welcher durch keine modernen Bauten verunziert ist. Hier ist es recht malerisch, wenn man vielleicht auch beide Augen zudrücken muß, um über manche Unebenheit hinwegzusehen. Man wird jetzt einen freundlichen Bewohner fragen, um weiter zu kommen. Es ist ziemlich ausgeschlossen, daß man sich ohne Auskunft zu Recht findet. Neben einem stallähnlichen Gebäude wird eine unansehnliche Tür geöffnet, die wir allein nicht beachtet hätten. Nunmehr sind wir an Ort und Stelle.

Alles hat seine Richtigkeit.
Nach einer kleinen Rechtschwenkung bemerken wir, daß wir uns tatsächlich in einer Röhre befinden. In einiger Entfernung sehen wir ein rundes Loch schimmern, das uns den Ausgang ins Freie verheißt. Es handelt sich um einen richtigen Gang, der mit festen Steinen ausgemauert ist und eine leicht gewölbte Decke trägt. Die Wände sind etwas schimmelig, wie sich das eigentlich geradezu gehört. An Modergeruch fehlt es keineswegs. Er ist eigentümlich gemischt mit Waschdunst. Hierüber wundern wir uns nicht, denn wir sehen etwa ein Dutzend Waschfässer der Länge nach in unserem Gange aufgestellt. Zwischendurch stehen noch einige Handwagen, Wir schließen hieraus, daß die Anwohner der Gebäude die Bequemlichkeiten eines „gewordenen“ Kellers zu schätzen wissen. Der Gang ist etwa 2 Meter hoch und etwa 11/2 Meter breit. Wir zählen genau 39 Schritte, bis wir in sanfter Neigung am Ausgang angelangt sind.

An der alten Stadtmauer.
Wir treten auf einen schmalen Uferstreifen, an dem die grünlich schimmernde Oker vorbeifließt. Überbleibsel der alten Stadtmauer, insbesondere eines Stadtturmes, sehen wir hinter uns aufragen. Vor uns, jenseits des Stadtgrabens, steigen die Reste der ehemaligen Wälle an, die dicht mit mehr oder weniger schönen Häusern bebaut sind. Der Stadtturm trägt in mittlerer Höhe einen Stein, auf dem wir die Jahreszahl 1579 eingeriffelt sehen. Die 9 kann vielleichtauch eine 2 sein. Die Zahl ist etwas undeutlich. Wir befinden und an dem sogenannten inneren Umflutgraben. Man kann an dieser Stelle einen ausgezeichneten Anschauungsunterricht über mittelalterliche Befestigungen erteilen. Wir sehen die Stadtmauer, die aus unregelmäßigen Brocken von Rogen- und Kalksteinen erbaut ist, den inneren Umflutgraben, der erste um 1700 angelegt ist. Wir können aufmerksamen Zuhöhrern auseinandersetzen, wie mit dem Aufkommen der Verbesserung der Feuerwaffen ein immer größeres Bedürfnis bestand, durch Anlage mächtiger Bollwerke den Stadtkern dem Bereiche der Kanonen zu entziehen. Die modernen Geschütze haben gesiegt. Etwa ums
Jahr 1800 wurden die befestigungswälle geschleift, weil sie garkeinen Zweck mehr hatten. Schon damals konnte man so weit und mit solcher Wirkung schießen, daß man entweder eine „richtige“ Festung anlegen mußte oder sich besser stand, Braunschweig zu einer offenen Stadt zu machen, wie dann auch geschehen ist. Im inneren unseres Stadtturmes rührt es sich. Wir sehen durch ein etwas trübes Fenster in einen kleinen Raum zu ebnen Erde. Eine Frau steht an einem Waschfaß und bearbeitet die Wäsche mit kräftigen Händen. Dichter Brütem wallt immer wieder gegen das Fenster und durch die Ritzen. So hat sich die Welt geändert. Aus dem Wehrturm ist ein Waschhaus geworden. Wo ehemals bewaffnete Bürger dem Feinde Trotz bot, steht eine Frau im
friedlichen Kampfe um die Reinlichkeit. Gerne wären wir noch ein wenig an der Stadtmauer entlang gegangen. Die Welt ist hier jedoch im wahrsten Sinne des Wortes mit Brettern vernagelt. Links und rechts des Turmes hüten die Nachbarn sorgfältig ein kleine Plätzchen Uferland vor dem Zutritt unbefugter Fremder. Die kleine malerische Steintreppe rechts des Turmes kann uns auch nicht weiter bringen. Sie führt nach oben zu einem verschlossenen Nachbarhäuschen. So gehen wir wieder durch unseren Gang zurück. Er ist romantisch genug, daß wir uns nicht langweilen brauchen.
Wenn sie jetzt neugierig geworden sind? Sie können diesen Gang noch heute besichtigen. Aus „Wanderabenteuer in und um Braunschweig“ von Heinz Mollenhauer, 1936. Wenn man vor dem Fachwerkhaus Echternstraße Nr.17 steht, geht rechts am Ende des Hauses ein Weg zum unterirdischen Gang, er ist jederzeit offen und kann besichtigt werden.

(Fotos Archiv Hoffmann)
Klaus Hoffmann, Heimatpfleger